Orthorexie: zwanghaft gesunde Ernährung
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Orthorexie

Von: Ina Mersch
Letzte Aktualisierung: 26.04.2019 - 17:29 Uhr

Es geht ihnen nicht um das "Wieviel" ihrer Nahrung, wie den Magersüchtigen, sondern um die richtige Qualität. Und damit diese stimmt, können schon mal Stunden des Tages mit Nachgrübeln über den Gehalt der aufgenommenen Nahrungsmittel verbracht werden. Was von manchen Ärzten eher als Marotte gesehen wird, wird von anderen als Vorstufe einer Magersucht oder als Zwangserkrankung ausgemacht; manche sehen sie sogar als eigenständiges Krankheitsbild.

Orthorexia nervosa

Entdeckt wurde die "neue Krankheit" 1997 von dem Alternativmediziner Steven Bratman. Er leitete den Namen von dem lange bekannten Krankheitsbild der Essstörung Anorexie ab. Diese gibt es in zwei Formen, denen aber beiden die Beschäftigung mit der Menge des Essens gemeinsam ist: Ob nun in der Form der Pubertätsmagersucht (Anorexia nervosa) die Nahrungsaufnahme drastisch reduziert wird oder sich bei der Anorexia bulimia Phasen zwanghaften Fastens mit Heißhungerattacken abwechseln.

Orthorexie: Ernährung und Symptome

Bei der Orthorexie (orthos= richtig; orexis = Appetit) steht nun aber nicht die Quantität, sondern die Qualität des Essens im Vordergrund. Betroffene sind krankhaft fixiert auf gesundes Essen und versuchen ungesundes zu vermeiden. Und das kann absurde Ausmaße annehmen: Sie grübeln Stunden des Tages über Nährwerttabellen, prüfen den Vitamingehalt der von ihnen verzehrten Lebensmittel und versuchen immer "gesündere" Lebensmittel zu bekommen – auch wenn sie zum Beispiel ihre Hirse in Afrika bestellen müssen.

Durch diese exzessive Auseinandersetzung – zusätzlich verschärft durch die häufigen Lebensmittelskandale in den Medien (wie BSE, Acylamid usw.) – fallen immer mehr Lebensmittel durch das Raster, weil sie den zugrunde gelegten Qualitätsmerkmalen nicht mehr entsprechen, zum Beispiel weil sie angeblich mit Schadstoffen belastet, krebs- oder allergieauslösend oder aus anderen Gründen ungesund sind. Die Betroffenen leben am Ende dieser aufs "Gesunde" ausgerichteten "Ernährungskarriere" meist vegan, ernähren sich also nur noch von Gemüse und Obst – und kaufen ihre Nahrungsmittel im Bioladen oder bestellen im Internet.

Orthorexie: Folgen der Krankheit

Auf der Strecke bleibt nicht nur die Lust am Essen, es kommt auch zu erheblichen Mangelerscheinungen – und natürlich Untergewicht. Wenn sich die Betroffenen an einen Arzt wenden, dann mit Symptomen wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit und einer eingeschränkter Leistungsfähigkeit.

Die extreme Fixierung auf gesundes Essen hat auch soziale Folgen. Denn wer sich so extrem ernährt, kann in geselliger Runde nicht mehr mitessen oder muss sich sein eigenes Essen mitbringen. Die Betroffenen grenzen sich auch dadurch aus, dass sie mit großem Sendungsbewusstsein versuchen, ihre Umgebung zu einem gesünderen Leben zu bekehren.

Orthorexie: Ursache Kontrollbedürfnis

Einige Mediziner sehen die in Fachkreisen als Orthorexia nervosa bezeichnete Essstörung nicht als eigenständiges Krankheitsbild, sonders als Zwangsstörung, die aber durchaus in eine manifeste Essstörung (wie zum Beispiel Magersucht) münden kann. Andere halten die Fixierung auf gesundes Essen für ein Teilsymptom einer bereits bestehenden Essstörung. Wegen dieser Schwierigkeiten bei der Zuordnung ist die Orthorexia nervosa (derzeit) weder in die internationale noch die deutsche Krankheitsklassifikation aufgenommen. Sie ist also offiziell nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt.

Als mögliche Ursache wird – wie auch bei Anorexie-Patientinnen – das Bedürfnis nach Kontrolle gesehen. Über die Reglementierung der Nahrungsaufnahme wird diese Kontrolle, die in anderen Lebensbereichen verloren gegangen ist, wieder hergestellt. So können Ängste und eine allgemeine Verminderung des Selbstwertgefühls kompensiert werden. Betroffen sind – auch hier eine Parallele zur Anorexie – vor allem junge, meist gebildete Frauen zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahrzehnt. Oft gelangen sie über eine Diät zur Gewichtsreduktion oder eine diätetische Maßnahme im Zusammenhang mit einer (chronischen) Krankheit in den Teufelskreis der gesunden Ernährung.

Orthorexie: Therapie und Behandlung

Behandelt wird die Orthorexie wie eine Essstörung. Es geht darum, zu einem "normalen" Essverhalten zurückzufinden und die Nahrungsaufnahme wieder entspannt ausleben zu können. Die Betroffenen müssen lernen, sich auch wieder etwas zu "gönnen", das einfach nur gut schmeckt, ohne nach Gesundheitsaspekten oder Nährwerten zu fragen. Ist die Gewichtsabnahme sehr ausgeprägt, kann eine Psychotherapie bei Orthorexia nervosa nötig werden.