Mann mit Paruresis auf Toilette
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Paruresis überwinden: Was tun gegen eine schüchterne Blase?

Von: Sigrid Born (Medizinautorin)
Letzte Aktualisierung: 02.06.2016 - 10:41 Uhr

Das Wort "Paruresis" bezeichnet ein schwieriges psychisches Problem, über das sich kaum jemand zu sprechen traut. Paruresis ist die Unfähigkeit, bei möglicher Anwesenheit anderer Menschen auf öffentlichen Toiletten zu urinieren. Im Englischen hat sich hierfür der Begriff Shy Bladder Syndrome etabliert, was soviel heißt wie "schüchternes Blasen-Syndrom". Schätzungen gehen von 1 Million Paruresis-Betroffenen in Deutschland aus.

Was ist Paruresis?

Paruresis (auch Urinophobie) bezeichnet das Unvermögen, auf öffentlichen Toiletten die Blase zu entleeren. Es handelt sich dabei um ein Problem mit psychischen Ursachen. Es ist nicht der Ekel vor öffentlichen Toiletten, der Betroffene davon abhält, solche Orte aufzusuchen: Es ist ihnen einfach unangenehm und peinlich, von anderen Menschen auf dem "Örtchen" gehört oder gesehen zu werden.

Paruresis: soziale Phobie als Folge

Grundsätzlich können Betroffene auch auf öffentlichen Toiletten urinieren, aber nur wenn sie alleine sind. Das führt dazu, dass sie beispielsweise warten, bis alle anderen den Raum verlassen haben, bevor sie urinieren können. Solche Menschen sind oft Meister im Vermeiden: Sie vermeiden den Gang zur Toilette, weil es nur noch zu Hause geht, sie vermeiden das Trinken, sie finden Vorwände, um nicht mit Freunden auszugehen oder gar zu verreisen. "Sie vermeiden öffentliche Toiletten und unterlassen soziale Aktivitäten, da sie nicht abschätzen können, wo und unter welchen Bedingungen es möglich ist zu urinieren", sagt der Psychotherapeut Dr. Philipp Hammelstein von der Universität Düsseldorf.

Der berufliche Tagesablauf wird teilweise danach bestimmt, wann sich eine Gelegenheit bietet, ungestört und unbeobachtet zu urinieren. Die zwischenmenschlichen Beziehungen und Partnerschaften leiden, wenn gemeinsame Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände abgesagt werden. Besonders dramatisch wird es, wenn Selbstzweifel und Depressionen hinzukommen. Die Paruresis wird deshalb als soziale Angststörung angesehen.

Ursachen von Paruresis: Wasserlassen unmöglich

Paruresis entsteht fast immer während der Pubertät. Auslöser kann eine dumme Bemerkung oder eine schlechte Erfahrung sein, etwa, wenn Kinder auf der Toilette bedroht wurden. Solch ein Schlüsselereignis ist der Anfang einer biologisch sehr alten Reaktion: das Signal "Gefahr" aktiviert das "sympathische Nervensystem", das "Kampf-Flucht-System", das noch aus der Zeit stammt, als der Mensch Jäger und Sammler war und allerlei Unheil aus der Natur drohte.

Bei Gefahr wird Adrenalin vermehrt ausgeschüttet, Muskeln werden durchblutet – und Wasserlassen wird unmöglich. Denn auch die Ringmuskeln, die die Blasenentleerung steuern, sind angespannt. Droht keine Gefahr, ist der "Parasympathikus" aktiviert – die Ringmuskeln sind entspannt, und nur in einer entspannten Situation kann man urinieren. Es macht also auch gar keinen Sinn, unter "Stress" urinieren zu wollen und zu "pressen", da sich der Muskel noch mehr anspannt.

Paruresis: Erwartungsangst groß

Paruresis-Betroffene leiden unter einer Erwartungsangst, denn sie haben ja gelernt, dass sie etwa im Beisein anderer Personen nicht urinieren können. Ein Betroffener berichtet: „Öffentliche Toiletten, in Kaufhäusern, Bahnhöfen, Flughäfen, Bars, Discotheken sind das große Problem. Einfach da wo es laut ist, und viele Menschen um einen herum. Es hilft keineswegs eine leere Toilette vorzufinden, denn gerade bei wenig Betrieb ist die Chance ja noch höher von einem Gast überrascht zu werden."

In der Erwartungsangst also ist das "Kampf-Flucht-System" wieder aktiv. Doch das ist noch nicht alles. Die schlechten Erfahrungen führen im Laufe der Zeit dazu, dass Betroffene sich für "nicht normal" halten oder als Versager regelrecht abwerten. Sie fühlen sich minderwertig und sind niedergeschlagen. Wenn es soweit ist, so ist die Paruresis "im Kopf" etabliert, wie Hammelstein es formuliert.

Paruresis-Therapie: Hoffnung auf Verhaltenstherapie

Mit Medikamenten ist Paruresis nicht zu therapieren. Doch sie lässt sich über eine Verhaltenstherapie positiv verändern. Vor Therapie-Beginn müssen jedoch körperliche Ursachen, wie zum Beispiel Prostatavergrößerung, Prostatakrebs oder Harnröhrenenge vom Facharzt ausgeschlossen werden. Die Paruresis-Therapie hat folgende Struktur: Vor der Therapie wird eine sehr ausführliche Diagnostik gemacht, damit die Therapie optimal auf den Paruresis-Betroffenen eingestellt werden kann.

Dem Paruresis-Betroffenen wird erläutert, wie die Blase funktioniert und warum die Blase in manchen Situationen nicht so will, wie es der Paruresis-Betroffene gerne hätte. Davon werden dann auch Übungen abgeleitet, die zur Überwindung der Paruresis dienen.

Behandlung mittels Übungen

Im zweiten Teil der Paruresis-Therapie werden die Übungen dann durchgeführt und führen häufig zu einer deutlichen Besserung der Probleme beim Wasserlassen. Der Körper soll lernen, dass die Toilettensituation völlig ungefährlich ist - und dazu muss sich der Paruresis-Betroffene genau dieser Situation stellen. Der Therapeut erarbeitet gemeinsam mit dem Betroffenen eine Liste mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden.

Für manche Paruresis-Betroffene ist das Urinieren im Sitzen in einer Kabine leicht, schwieriger ist das Urinieren im Stehen. Der Patient muss bei allen Übungen viel getrunken haben, damit der Harndrang das Urinieren etwas erleichtert. Im dritten Teil der Paruresis-Therapie geht es dann um die "Paruresis im Kopf" - die negativen Gedanken. In Gesprächen werden die Gedanken des Betroffenen genau analysiert, hinterfragt und eventuell auch verändert.

Paruresis: Selbsthilfe für Betroffene

Zunächst muss der Betroffene "seine" Paruresis kennenlernen. Dabei sollte ein Paruresis-Betroffener eine Schwierigkeitshierarchie erstellen, also in welcher Situation das Urinieren leicht ist (etwa wenn niemand zugegen ist) und wann unmöglich ist (so ist es für manche unmöglich, im Büro zu urinieren, wenn Kollegen hereinkommen könnten), ein Dritter hat vielleicht Angst davor, dass das Plätschern zu laut ist. Im nächsten Schritt der Selbsthilfe braucht der Paruresis-Betroffene einen "Buddy", einen Vertrauten also, mit dem er Situationen bewusst durchsteht.

Dieser Vertraute sollte genau über das Problem Bescheid wissen, Verständnis haben und bereit sein, bei den Übungen ernsthaft mitzumachen, um eine wertvolle Hilfe zu sein. Nun wird zur Paruresis-Selbsthilfe der Körper überlistet: der Körper soll lernen, dass Toilette nicht gleich Gefahr bedeutet. Zu der Übung gehört auch, das Unterbrechen des Harnstrahls für drei bis fünf Sekunden zu üben – natürlich zu Hause in Ruhe. Dies geht durch Muskelanspannung. Zur Vorbereitung der Übung muss der Paruresis-Betroffene sehr viel trinken (circa zwei Liter), am besten kohlensäurefreies Wasser, denn der Harndrang muss sehr stark sein.

Hilfe durch Selbsthilfe

Erst der folgende Schritt während der Paruresis-Selbsthilfe ist eine Konfrontationsübung: man sucht sich die Situation, in der ein Toilettengang noch so gerade funktioniert, also z.B. bei Männern Urinieren im Sitzen in der Kabine, wenn niemand vor der Tür wartet. Auf einer öffentlichen Toilette wird in einem Kaufhaus nun geübt: Urinieren im Stehen bei angelehnter Kabinentür – wobei der Buddy dabei ist und vor der Tür wartet. Wenn das geht, versucht man, den Strahl zu unterbrechen.

Die Übungen, bei denen man immer wieder Rückschläge akzeptieren muss, werden in ihrem Schwierigkeitsgrad gesteigert. Im nächsten Schritt schließen sich gemeinsam mit dem Buddy die Folgeübungen an, wobei die letzte leichtere Übung, die erfolgreich lief, erstmal wiederholt werden sollte. Erst dann sollte man z.B. die Übungsorte wechseln und das Training steigern.

Paruresis überwinden

Der dann folgende Schritt bei der Paruresis-Selbsthilfe bedeutet für den Betroffenen, nun alleine zu üben, was einige Überwindung kosten wird. Aber durch die Übungen mit dem Buddy kennt man jetzt jede Menge Situationen, die man nach Schwierigkeitsgrad durchgestuft oft probieren kann und sollte. Das alles dauert seine Zeit und kostet immer wieder Überwindung, ohne die man jedoch die Paruresis nicht überwinden wird. Der letzte Schritt ist der erste Schritt in ein selbstbestimmtes Leben: das Vermeidungsverhalten muss sukzessive abgebaut werden, um die Paruresis besiegen zu können.