Chronische Schmerzen & Schmerzgedächtnis

In Europa leiden rund zwei Drittel der Bevölkerung mindestens einmal in der Woche an Schmerzen. Besonders betroffen: Patienten mit chronischen, also dauerhaften Schmerzen. Hier wird Schmerz statt als Symptom einer Erkrankung als eigenständige Krankheit betrachtet und behandelt. Eine große Rolle spielte in mehreren Symposien die Erkenntnis der letzten Jahre, dass gedächtnisähnliche Prozesse bei Schmerzkrankheiten eine große Rolle spielen.
Häufigkeit von chronischen Schmerzen
Nach Informationen der Deutschen Schmerzliga leiden in Deutschland acht bis zehn Millionen Menschen an chronischen Schmerzen, etwa als Folge von Wirbelsäulenerkrankungen oder Knochenbrüchen. Hier hat der Schmerz seine Warnfunktion verloren.
Allein 250.000 Kinder sind laut der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes betroffen. 25 Prozent der älteren Menschen leiden an ständig vorhandenen oder wiederkehrenden Schmerzzuständen, die meistens von den Betroffenen oder auch von den Ärzten als schicksalhaft akzeptiert werden.
Das Schmerzgedächtnis
Ein sogenanntes Schmerzgedächtnis kann der Körper entwickeln, wenn Schmerzen über einen längeren Zeitraum bestehen und unbehandelt bleiben. Die Nervenbahnen, die den Schmerzimpuls durch den Körper leiten, werden dadurch ständig gereizt, ähnlich wie ein dauerhafter Trainingseffekt, mit der Folge, dass sich die Schmerzen verselbständigen. Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München untersuchen Forscher, was bei Schmerzen in den Zellen passiert.
Wenn man sich verletzt oder eine Entzündung im Körper besteht, geben Nervenzellen im Rückenmark ein einfaches Signal ans Gehirn. Tritt der Reiz in regelmäßigen Abständen auf, reagiert die Zelle jedes Mal heftiger. Auch wenn der Reiz nicht stärker wird, sendet sie pausenlos Signale ans Gehirn. Irgendwann wird gar kein Schmerzreiz mehr benötigt, die Nervenzelle meldet dem Gehirn dennoch ständig, dass Schmerzen bestehen.
Dauerschmerz beeinflusst sogar die genetische Aktivität der Nervenzelle. Es bilden sich neue Eiweißketten, die die Zellmembran so verändern, dass die Nervenzelle nun schneller reagiert. Die Folge: mehr Schmerz.
Lernprozesse beeinflussen die Schmerzwahrnehmung
Im Zusammenhang mit dem Schmerzgedächtnis sind die Forschungen der Mannheimer Wissenschaftler um PD Dr. Dieter Kleinböhl und Prof. Dr. Rupert Hölzl von Bedeutung: In einem Versuch ließ sich die Schmerzempfindlichkeit von gesunden Studienteilnehmern erheblich steigern, ohne dass sie sich dessen bewusst wurden. Umgekehrt ließ sich auf die gleiche Weise die Empfindlichkeit senken, je nachdem, welche Konsequenzen auf die Wahrnehmungsreaktionen folgten.
Der Versuch
Für ihre durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderte Studie wurden die Forscher beim Deutschen Schmerzkongress in Berlin mit dem mit 3.500 Euro dotierten zweiten Preis der Kategorie Grundlagenforschung des Förderpreises für Schmerzforschung 2006 ausgezeichnet. Der Versuch verlief so: Die Probanden erhielten über eine sogenannte Thermode Hitzereize auf die Hand. Dabei durften sie selbst die Temperatur regulieren.
Ihre Aufgabe: sie sollten die gefühlte Reizstärke konstant halten. "Bei gesunden Probanden stellte sich bei gerade schmerzhaften Reizen normalerweise Gewöhnung ein, d.h. sie regelten die Temperatur mit der Zeit höher um die Empfindung gleich zu halten", erklärt Dr. Kleinböhl.
"Bei chronischen Schmerzleiden, wie beim Rückenschmerz, findet man dagegen keine Gewöhnung an solche Reize - hier tritt Sensibilisierung auf, d.h. eine Zunahme der subjektiven Schmerzempfindung." Die Frage war, ob eine solche veränderte Schmerzwahrnehmung durch unbewusste Lernprozesse entstehen kann. Um das herauszufinden, untersuchten die Forscher Gesunde unter zwei Bedingungen. Die Aufgabe, die Empfindungsstärke der Hitzereize konstant zu halten, blieb.
Das Ergebnis
In einer Gruppe wurde eine Sensibilisierungsreaktion durch eine anschließende weitere Temperaturabsenkung "verstärkt". Die Gewöhnungsreaktionen jedoch wurde durch eine anschließende Temperaturerhöhnung "bestraft".
In der zweiten Gruppe verhielt es sich umgekehrt: hier wurde Gewöhnung verstärkt und Sensibilisierung bestraft. Es zeigte sich, dass in der Gruppe, in der das Schmerzempfinden verstärkt wurde, vermehrt Sensibilisierungsreaktionen gegenüber Hitzereizen auftraten, während in der anderen Gruppe vermehrt Gewöhnungsreaktionen gefunden wurden. In der Gruppe mit erlernter Sensibilisierung wurde außerdem nachgewiesen, dass bei abnehmenden Reizstärken die persönliche Empfindungsstärke gleich blieb.
Den Teilnehmern war diese im Verlauf des Experiments allmählich zunehmende erhöhte Schmerzempfindlichkeit nicht bewusst.
Schmerztherapie in drei Stufen
Die klassische Schmerztherapie arbeitet nach wie vor mit Medikamenten. Vor einer erfolgreichen Therapie steht die genaue Diagnose. Der Patient muss gründlich untersucht werden, vor allem aber muss der Schmerz dem ursprünglichen Auslöser zugeordnet werden – das kann Jahre zurückliegen. Der Arzt stellt fest, ob der Schmerz eine körperliche Ursache, zum Beispiel einen Tumor, hat, ob es sich um eine Fehlfunktion der Nerven oder der Schmerzrezeptoren im Gehirn handelt oder ob eine ganz andere Ursache vorliegt.
Auch psychische und soziale Aspekte bezieht der Arzt in die Diagnose mit ein. Bei besonders intensiven chronischen Schmerzen ist es sinnvoll, den Schmerztherapeuten aufzusuchen.
- Die erste Stufe besteht aus schwachen Schmerzmitteln. Hier sind Medikamentenwirkstoffe wie Acetylsalicylsäure, Paracetamol oder Diclofenac vertreten.
- Auf der zweiten Stufe setzt man mittelstarke morphinähnliche Mittel, sogenannte schwache Opiate. Dazu zählen die Wirkstoffe Tramadol, Tilidin und Naloxon.
- In der dritten Stufe werden Morphin und andere morphinähnliche Schmerzmittel verabreicht. Das sind Wirkstoffe wie Morphinsulfat, Buprenorphin oder Fentanyl.
So verwundert es nicht, dass Schmerzmedikamente die Bestseller in Apotheken sind. Ihr jährlicher Umsatz in Deutschland liegt bei rund 500 Millionen Euro. Die wichtigsten Wirkstoffe heißen Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Paracetamol.
Körpereigene Schmerzmittel
Forscher untersuchen, ob sich das Schmerzgedächtnis auch wieder löschen lässt. Der Körper soll das Vergessen lernen. Körpereigene Systeme sind ein Schlüssel dazu, etwa die "Endocannabinoide", das sind Marihuana-artige Stoffe, die das Gehirn produziert. Die Forschung beschäftigt sich intensiv damit, wie man diese Vorgänge fördern kann. Auch im Ausland arbeiten Forscher an neuen Methoden der Schmerztherapie.
Schmerzstiller im Speichel?
Vielleicht gelingt es demnächst, ein körpereigenes Schmerzmittel zu isolieren und nebenwirkungsfrei einzusetzen. Denn Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der Mensch in seinem Speichel ein körpereigenes Schmerzmittel produziert. Es soll sogar wirksamer sein als Morphium.
Verantwortlich dafür ist ein kleines Protein namens Opiorphin, das Schmerzen sehr effektiv stillt, wie die Wissenschaftler im Magazin „Proceedings" der US-Akademie der Wissenschaften berichten. Das Opiorphin habe in Versuchen bei Ratten Schmerzen bei Entzündungen effektiv gelindert. Zudem konnten die behandelten Nager länger über Stahlnägel laufen als nicht behandelte Artgenossen.
Opiorphin ist eine Morphium-ähnliche Substanz - sie spielt eine Schlüsselrolle in der Schmerzwahrnehmung, reguliert aber auch emotionale Reaktionen. Opiorphin und verwandte Substanzen aktivierten im Körper einen schmerzstillenden Mechanismus, berichten die Wissenschaftler.
Wahrscheinlich hemmten die Stoffe den Abbau körpereigener Endorphine – das sind Hormone, die Schmerzempfinden senken und Glücksgefühle hervorrufen. Daher sei langfristig eine Anwendung Opiorphin in der Schmerztherapie sowie bei Stimmungsschwankungen vorstellbar
In einem nächsten Schritt wollen die Forscher herausfinden, welche Umstände im Körper die natürliche Produktion von Opiorphin hervorrufen.
Placebos wirken
Auch die Wirkung der Placebos – Scheinmedikamente – wird immer besser erforscht. Der Turiner Wissenschaftler Fabrizio Benedetti etwa fand heraus, wie wichtig es ist, dass Patienten nichts von den Placebos wissen und eine Besserung ihres Schmerzzustandes erwarten – theoretisch ist so jeder Mensch für Placebos empfänglich. Dr. Karin Meissner vom Institut für medizinische Psychologie an der Universität München hat gezeigt, dass gezielte Placebo-Effekte sogar auf Organe möglich sind.
In einem Versuch erhielten 18 gesunde Personen, in drei Gruppen eingeteilt, beispielsweise an verschiedenen Tagen je eine Tablette ohne jegliche Wirksubstanz. Alle Teilnehmer wurden in formiert, dass die Medikamente die Magenaktivität steigern, senken oder nicht beeinflussen. Die Forscher haben die Magenaktivität eine halbe Stunde vor und nach der Placebo-Gabe gemessen.
Gleichzeitig zeichneten sie die Herzfrequenz, die Atmung und den elektrischen Hautwiderstand der Untersuchten auf.
Das Resultat: die Probanden reagierten mit deutlich veränderten Magenbewegungen - die anderen Organe hingegen zeigten keine Veränderung. Karin Meissner führt weitere Studien durch, in denen mit Placebo-Medikamenten der Blutdruck gesenkt werden soll. Ähnliches konnte auch der Placeboforscher Benedetti erfolgreich bei Patienten zeigen, die eine wirkstofffreie Creme gegen Schmerzen an Hand und Füßen auftrugen.
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