Besorgte Frau mit Autoimmunkrankheit
© iStock.com/JackF

Autoimmunerkrankung: Was ist das?

Von: Dagmar Reiche (Ärztin und Medizinautorin)
Letzte Aktualisierung: 29.09.2016 - 12:26 Uhr

Um das Jahr 1900 erkannte der Forscher Paul Ehrlich, dass der Körper zwischen körperfremden und körpereigenen Zellen unterscheiden kann. Dieser lebenswichtige Mechanismus ermöglicht dem Organismus, fremde, potenziell bedrohliche Substanzen zu erkennen und zu vernichten, ohne sich selbst zu zerstören. Bei Autoimmunkrankheiten ist dieser Prozess gestört. Was ist eine Autoimmunkrankheit und wie entsteht sie? Wir informieren über Entstehung und Arten von Autoimmunerkrankungen.

Erkrankungen des Immunsystems

Das menschliche Immunsystem ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Zellen und Organe, mit dem nicht nur fremde Stoffe und Krankheitserreger erkannt und zerstört werden, sondern auch körpereigene Zellen, die nicht mehr funktionieren. Ohne Immunsystem könnten wir nicht lange überleben - schließlich sind wir umgeben von potenziell krankmachenden Mikroorganismen wie Bakterien, Viren und Pilzen. Die Abwehrprozesse können prinzipiell in zwei Richtungen gestört sein; beides kann zu Funktionsstörungen und Krankheiten führen:

  • Immunmangelkrankheiten: Die Abwehr ist nicht effektiv genug, z.B. bei angeborenen Immundefekten oder wenn das Immunsystem z.B. durch chronische Erkrankungen oder Medikamente außer Gefecht gesetzt ist.
  • Autoimmunerkrankungen: Die Abwehr arbeitet stärker als nötig und greift auch körpereigenes Gewebe an.

Wie funktioniert das Immunsystem?

Unsere Abwehr ist ständig in Aktion: Sie patrouilliert – v.a. in Form der weißen Blutkörperchen und den von ihnen gebildeten Immunglobulinen – in den Blut- und Lymphgefäßen durch den Körper, um mögliche Gefahren zu erkennen und die Urheber zu zerstören, bevor sie Unheil anrichten können. Dazu bedient sie sich zweier Systeme: die angeborene, unspezifische Abwehr und die erworbene spezifische (oder adaptive) Abwehr, die eng zusammenarbeiten:

Unspezifische Abwehr

Dazu zählen Barrieren wie die Haut und Schleimhaut, die überhaupt erst das Eindringen von Krankheitserregern erschweren. Haben die Feinde trotzdem die Barrikaden gestürmt, werden von verschiedenen Zellen Botenstoffe, z.B. so genannte Interleukine freigesetzt, die – ähnlich einer Leuchtrakete – signalisieren, dass Gefahr im Verzug ist und Hilfe anfordern. Lokal kommt es dadurch auch zu einer Entzündungsreaktion.

Schnell eilen Abwehrkräfte wie Fress- und Killerzellen herbei, die alles, was fremd ist per "Hau-drauf-Strategie" vernichten. Um nicht selbst ins Visier zu geraten, tragen körpereigene gesunde Zellen auf ihrer Oberfläche eine Art Erkennungszeichen, den so genannten Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC). Mit diesem können sie sich als zum Körper gehörig ausweisen und bleiben so von der Zerstörungsaktion verschont. Der größte Teil aller Infektionen wird bereits durch dieses System erfolgreich bekämpft.

Spezifische Abwehr

Diese Spezialeinheit ist in der Lage, gegen Angreifer ganz gezielt vorzugehen. Dazu bedient sie sich einer Art Verbrecherkartei, in der alle Bösewichte, die jemals vom Immunsystem entdeckt worden, gespeichert werden. Diese ist in "Gedächtniszellen" abgelegt. Als "Fingerabdruck" der Ganoven dienen Antigene auf deren Oberfläche, die von den Antikörpern (Immunglobulinen), die nach dem Erstkontakt im Körper gebildet wurden, immer wieder erkannt werden. Damit ist eine schnelle, spezifische Abwehrreaktion möglich und die Erreger werden zerstört, bevor sie in Aktion treten können.

Nach diesem Prinzip funktionieren übrigens auch Impfungen: So werden z.B. inaktive (und damit ungefährliche) Viren gespritzt und der Körper produziert gegen deren Antigene (die denen der richtigen Krankheitskeime entsprechen) Antikörper. Dringt dann der richtige Erreger in den Organismus ein, wird er schnell erkannt und zerstört.

Ursachen von Autoimmunerkrankungen

So effektiv die körpereigenen Abwehrmechanismen meist sind, so gefährlich ist es, wenn die Regulationsmechanismen versagen und das Immunsystem sich gegen körpereigenes Gewebe richtet. Wichtiges Mitglied der Abwehrtruppe sind die T-Zellen, die im Thymus in Kindheit und Jugend darin ausgebildet wurden, die körpereigenen MHC-Ausweispapiere zu prüfen und zu erkennen.

Wie entsteht eine Immunangelkrankheit?

Aus bisher nicht endgültig geklärten Gründen können diese T-Zellen zu Saboteuren werden: Statt fremde Eindringlinge anzugreifen, stürzen sie sich auf Körpergewebe und zerstören dessen Zellen. Dabei ziehen sie weitere Abwehrzellen auf ihre Seite, so dass die körpereigenen Strukturen wie Antigene fremder Zellen behandelt werden und in der Folge einem massiven Angriff ausgesetzt sind.

Die gegen körpereigenes Gewebe gerichteten Immunglobuline werden auch als Autoantikörper (auto = selbst) bezeichnet. Der Reparaturtrupp des Körpers tut zwar sein Möglichstes, die Schäden zu beheben, steht aber auf verlorenem Posten – früher oder später wird das angegriffene Organ so zerstört, dass es seine Funktion verliert.

Weitere Folge ist, dass das Immunsystem durch seine permanenten Attacken an falscher Stelle nicht mehr ausreichende Kräfte für seine eigentlichen Aufgaben hat. Deshalb können sich sowohl Erreger von außen als auch Krebszellen von innen ausbreiten und zu entsprechenden Krankheiten führen - es entwickeln sich also zusätzlich Symptome einer Immunmangelkrankheit.

Erbanlagen und Umweltfaktoren als Ursache

Als Ursache wird eine Kombination aus angeborener Empfänglichkeit und bestimmten Umweltfaktoren vermutet, d.h., dass bestimmte Auslöser wie Stress, Schwangerschaft oder Infektionen nur bei solchen Personen zu einer Autoimmunerkrankung führen, die eine genetische Veranlagung dafür haben.

Wann genau und warum es dann zu einer Erkrankung kommt, ist nach wie vor unklar. Bekannt ist allerdings, dass auch bestimmte Erreger eine Autoimmunerkrankung auslösen können, nämlich dann, wenn ihre Oberfläche der Struktur körpereigener Zellen sehr stark ähnelt. Bildet das Immunsystem nun Antikörper gegen den Keim, attackieren diese auch das ähnliche körpereigene Gewebe.

Dies ist beispielsweise der Fall beim rheumatischen Fieber: Antikörper gegen bestimmte Streptokokken (z.B. Scharlacherreger) richten sich später auch gegen Gelenk-, Nieren oder Herzmuskelgewebe. Doch auch dies passiert vermutlich nur bei Menschen, die eine erbliche Veranlagung haben.

Wieweit der psychische Aspekt nicht nur bei der Bewältigung und dem Verlauf, sondern auch bei der Entstehung der Krankheit eine Rolle spielt, darüber sind die Meinungen geteilt.

Folgenschwerer Defekt

Meist beginnen Autoimmunkrankheiten zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr. Welche Symptome im Einzelnen auftreten, hängt davon ab, gegen welches Gewebe sich der Autoimmun- und Entzündungsprozess richtet. Derzeit sind rund 60 Autoimmunkrankheiten bekannt, die sich entweder nur auf bestimmte Organe (organspezifisch) beschränken oder im gesamten Körper manifestieren (systemisch), z.B. weil sie sich gegen Gefäße, Gelenke oder Bindegewebe richten; beide Formen können gemischt auftreten (intermediär).

Typische Bespiele für betroffene Gewebe sind:

Die Diagnostik erfolgt vor allem über Bestimmung der Antikörper im Blut – welche untersucht werden, hängt von den Symptomen und der Verdachtsdiagnose ab.

Therapie bei Autoimmunerkrankungen

So bunt das Symptombild ist, so fachübergreifend ist die Therapie – eingebunden sind z.B. Internisten, Hautärzte, Rheumatologen, Nervenärzte (Neurologen) oder Stoffwechselspezialisten (Endokrinologen). Allgemeingültige Aussagen zur Behandlung lassen sich kaum treffen, da diese – je nach Krankheit – sehr unterschiedlich ist. Sind einzelne Organe wie die Schilddrüse oder Bauchspeicheldrüse betroffen, muss der Funktionsausfall kompensiert werden, z.B. indem die fehlenden Schilddrüsenhormone oder Insulin zugeführt werden.

Gängige Therapiemethoden

Um die Aktivität des Immunsystems zu unterdrücken, stehen zwar sog. Immunsuppressiva wie Kortison zur Verfügung; allerdings ist die Dämpfung unspezifisch, womit evtl. auch gesunde Abwehrmechanismen unterdrückt werden. In vielen Fällen kommen auch entzündungshemmende Medikamente zum Einsatz. Heilende Therapien sind bisher nur in Einzelfällen und im Ansatz möglich – als Beispiel sei die Stammzelltransplantation bei Diabetes mellitus genannt.

Den Abwehrkampf abwehren?

Ein australisches Forscherteam und eine Arbeitsgruppe in Braunschweig scheinen jedoch in den letzten Jahren dem Traum, eine Heilung zu ermöglichen, näher gekommen zu sein: Die Wissenschaftler haben einen Kontrollmechanismus entdeckt, mit dem das Immunsystem zurückreguliert werden kann. Die Hoffnung ist, dass sich daraus ein Medikament entwickeln lässt, das eine ausgebrochene Autoimmunkrankheit stoppt. Allerdings wird es – selbst wenn sich die Idee als tragfähig erweist – noch mehrere Jahre dauern, bis ein solches Heilmittel entwickelt und zugelassen sein wird.

Britische Wissenschaftler haben kürzlich den Mechanismus entschlüsselt, mit dem der Mutterkuchen (Plazenta) einer Schwangeren verhindert, dass das mütterliche Immunsystem das ungeborene Kind – das ja eigentlich ein Fremdkörper ist – angreift. Offensichtlich tarnen bestimmte Eiweiße auf der Oberfläche der Plazenta diese, machen sie also praktisch für die Abwehrzellen unsichtbar. Die Forscher wollen nun solche Eiweiße zur Behandlung von Autoimmunkrankheiten einsetzen – erste Test haben bereits begonnen.

Ob sich vorbeugend etwas gegen Autoimmunerkrankungen tun lässt (z.B. wenn andere Familienmitglieder erkrankt sind), ist umstritten und kann allenfalls für einzelne Erkrankungen beantwortet werden.