Stammzellen (3D-Modell)
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Stammzellen und Stammzellentherapie

Von: Yannis Diener (Arzt)
Letzte Aktualisierung: 17.07.2020 - 15:16 Uhr

Stammzellen spielen im menschlichen Körper eine entscheidende Rolle, denn sie steuern viele wichtige Prozesse im Körper. In diesen Zellen liegt ein enormes Potenzial zu Behandlung unterschiedlichster Krankheiten – dies wird als Stammzellentherapie bezeichnet. Im Rahmen der Stammzellforschung versuchen Wissenschaftler stets, die Möglichkeiten dieser Therapieform weiterzuentwickeln und in den letzten Jahren hat sich viel in der Forschung getan. Im Folgenden geben wir Ihnen einen Überblick über die Eigenschaften von Stammzellen und ihre Anwendungen in der Medizin. 

Die Eizelle als erste Stammzelle

Nervenzellen, Muskelzellen oder Hautzellen – so unterschiedlich sie auch sind, ihr Ursprung liegt in einer gemeinsamen Zelle: der Stammzelle, genauer gesagt in der befruchteten Eizelle, der Zygote. Diese Zelle bildet jede unserer über 200 verschiedenen Zellarten. Sie wird deshalb als totipotente (oder auch omnipotente) Stammzelle bezeichnet, denn sie hat die Fähigkeit, sich zu einem komplett eigenen Organismus zu entwickeln.

In dieser Stammzelle steckt also eine enorme Kraft, und auch wenn die Fähigkeit der Totipotenz bereits nach kürzester Zeit verlorengeht, bleibt diese Kraft uns in abgeschwächter Form auch im Erwachsenenalter, in Form der adulten Stammzellen, erhalten.

Was sind Stammzellen?

Stammzellen sind gemäß der gängigen Definition alle Zellen im Körper, die die Fähigkeit haben, sich zu verschiedenen Zelltypen oder Formen von Gewebe zu entwickeln.

Dabei muss man zwischen zwei großen Arten von Stammzellen unterscheiden, den embryonalen Stammzellen und den adulten Stammzellen:

  • Embryonale Stammzellen sind pluripotent, was bedeutet, dass sie in ihrer Differenzierung noch nicht festgelegt sind und sich daher zu allen möglichen Formen entwickeln können.
  • Dagegen können adulte Stammzellen sich nur in einem festgelegten Bereich spezialisieren, zum Beispiel bei der Blutbildung. Sie sind also multipotent.

Wie entstehen embryonale Stammzellen?

Embryonale Stammzellen entstehen genaugenommen nur im Labor und kommen im menschlichen Körper überhaupt nicht vor. Dennoch ist das frühe Entwicklungsstadium einer Eizelle nach der Befruchtung Voraussetzung, um diese Stammzellen zu gewinnen.

Die befruchtete Eizelle teilt sich in den ersten fünf Tagen mehrere Male, bis sich die sogenannte Blastozyste entwickelt hat – eine kleine, mit Flüssigkeit gefüllte Kugel. Erst danach nistet sich die Blastozyste in der Gebärmutter ein, wo sich fortan das ungeborene Kind entwickelt.

Die Blastozyste besteht aus zwei Zellarten: den äußeren Zellen, Trophoblasten, und den inneren Zellen, den Embryoblasten. Aus den inneren Zellen entwickelt sich unser gesamter Organismus, vom Gehirn über die inneren Organe bis zu unserer Haut. Diese Embryoblasten besitzen die einzigartige Fähigkeit, sich in alle Gewebsarten zu verwandeln.

Entnimmt man diese Embryoblasten und kultiviert sie (das heißt, man lässt sie sich im Labor weiterentwickeln), erhält man embryonale Stammzellen. Zum ersten Mal gelang es Forschern 1981, embryonale Stammzellen aus einer Maus zu gewinnen. Seitdem versuchen Wissenschaftler, Stammzellen für Therapien zu verwenden.

Welche Aufgabe haben adulte Stammzellen im Körper?

Doch wofür benötigen wir überhaupt Stammzellen? Was ist ihre Aufgabe in unserem Körper? Um das Thema besser zu verstehen, lohnt sich ein näherer Blick darauf, wofür wir im Erwachsenenalter Stammzellen benötigen und wo man sie finden kann. Als Beispiel eignet sich die Bildung unserer Blutbestandteile.

Die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) transportieren den Sauerstoff von der Lunge in alle Bereiche unseres Körpers und sorgen ebenfalls für den Rücktransport des bei der Atmung entstandenen Kohlenstoffdioxids. Diese Aufgabe ist für die Zelle mit viel oxidativem Stress verbunden (so werden die Prozesse beim Stoffwechsel der Zelle bezeichnet, die auf Dauer schädlich sind), weshalb ein Erythrozyt im Durchschnitt nur 120 Tage überlebt. Er verliert nach und nach seine Elastizität und wird vom Körper abgebaut. 

Schätzungsweise produziert unser Körper pro Tag 2x1011 neue rote Blutkörperchen. Dabei spielen Stammzellen eine entscheidende Rolle: Im roten Knochenmark sitzen multipotente, adulte Stammzellen. Man nennt sie in diesem Fall auch hämatopoetische Stammzellen, da sie für die Blutbildung (Hämatopoese) verantwortlich sind. Diese Stammzellen teilen sich in mehreren Schritten und spezialisieren sich bei jeder Teilung immer mehr, bis nach ungefähr acht Tagen ein fertiger Erythrozyt entstanden ist. Auf diesem Weg sorgt unser Körper für einen konstanten Nachschub an roten Blutkörperchen.

Neben den roten Blutkörperchen müssen auch die weißen Blutkörperchen (Leukozyten) und die Blutplättchen (Thrombozyten) ständig erneuert werden. Auch diese Zellarten können aus den adulten Stammzellen im Knochenmark entstehen.

Reiht man alle Möglichkeiten der Entwicklung von adulten Stammzellen aneinander, gleicht das Bild einem Baumdiagramm, an dessen Ende die ausdifferenzierten Zellen stehen. Die Fähigkeit, sich in verschiedene Zellarten zu verwandeln, ist charakteristisch für Stammzellen. Sie dienen der Erneuerung im Körper und helfen uns zum Beispiel, verletztes Gewebe zu ersetzen.

Was unterscheidet embryonale von adulten Stammzellen?

Der Hauptunterschied zwischen den zwei Stammzellarten – den adulten und den embryonalen Stammzellen – befindet sich in der möglichen Ausdifferenzierung, also in der Vielseitigkeit der Zellen. Während embryonale Stammzellen sich noch pluripotent in alle möglichen Gewebsarten verwandeln können, sind adulte Stammzellen eingeschränkt.

Eine hämatopoetische (blutbildende) Stammzelle im Knochenmark kann sich zwar in die verschiedensten Formen von Blutzellen verwandeln, sie kann aber nicht zu einer Nervenzelle oder einer Leberzelle werden. Mediziner sprechen von der Potenz, die also bei adulten Stammzellen abnimmt.

Stammzellenforschung: Embryonale Stammzellen im Fokus

Gerade die Vielseitigkeit der embryonalen Stammzellen macht diese zu einem zentralen Forschungsthema, bei dem der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Neue Hirnzellen nach einem Schlaganfall oder Herzmuskelzellen nach einem Herzinfarkt? Die Liste von Möglichkeiten ist lang, doch in der Realität ist die Forschung noch nicht so weit.

Allerdings wird derzeit in mehr als 350 Unternehmen weltweit nach neuen Methoden geforscht, embryonale Stammzellen in der Medizin einzusetzen.1

Ethische Debatte bei embryonalen Stammzellen – wo fängt das Leben an?

Embryonale Stammzellen entstehen strenggenommen nur im Labor, wenn die Embryoblasten künstlich entfernt werden. Dabei wird der Embryo in der Regel zerstört. Diese Stammzellen gewinnt man aus "überzähligen" Embryonen, die zum Beispiel im Rahmen einer künstlichen Befruchtung entstehen. In Deutschland ist dieses Verfahren nach dem Embryonenschutzgesetz verboten, während in anderen Ländern andere Regularien gelten.

Da sich embryonale Stammzellen noch in alle Gewebsarten spezialisieren lassen, sind sie von besonderem Interesse für die Forschung. Jedoch muss die Frage gestellt werden, ob es ethisch vertretbar ist, Embryoblasten für diesen Zweck zu entnehmen.

Um diesem ethischen Problem zu entgehen, haben Wissenschaftler an neuen Wegen geforscht, um adulten Stammzellen die Fähigkeit von embryonalen Stammzellen zurückzugeben. Der japanische Arzt Shin'ya Yamanaka entdeckte 2006, dass man Hautzellen von Mäusen mithilfe von Viren wieder zu embryonalen Stammzellen "umprogrammieren" kann. Diese Zellen nennt man induzierte pluripotente Stammzellen (iPS). Ein Jahr später gelang derselbe Prozess auch bei menschlichen Hautzellen, was den Weg für neue Therapiemöglichkeiten in der Medizin ebnete.

Stammzellentherapie – wo wird sie bereits eingesetzt?

Seit den 1970er Jahren werden adulte Stammzellen zur Behandlung von Erkrankungen, die das Blutsystem betreffen, eingesetzt. Insbesondere bei der Behandlung von Leukämie – einer Form von Krebs – können Stammzellspenden oftmals Leben retten. Zwischen 40 und 70 Prozent der Stammzelltransplantationen sind erfolgreich, was bis heute ein großer Erfolg für die Medizin ist.

Aber auch bei anderen Erkrankungen, wie Lymphomen oder dem multiplen Myelom werden adulte Stammzellen in der Therapie eingesetzt.

Gewinnung von adulten Stammzellen – woher kommen die Stammzellen?

Alle Therapieformen der Stammzellentherapie haben eines gemeinsam: Sie erfordern Stammzellen. Es existieren mittlerweile zahlreiche Möglichkeiten, Stammzellen zu gewinnen. Die drei häufigsten Formen der Stammzellspende sind: 

  • Gewinnung aus dem Blut: Ein Großteil der Stammzellen sitzt im Knochenmark. Mithilfe eines medikamentösen Stimulators (G-CSF) werden die Stammzellen zum Übergang ins Blut angeregt und schließlich, ähnlich wie bei einer Blutspende, aus dem Blut extrahiert.
  • Knochenmarktransplantation: Dieses Verfahren erfolgt unter Narkose. Dabei wird ein Teil des Knochenmarks mit den entsprechenden Stammzellen entnommen, bevorzugt aus dem Beckenkamm. Die Stammzellen werden dann direkt auf den Empfänger übertragen, ähnlich wie bei einer Blutspende über die Venen.
  • Stammzellspende aus Nabelschnurblut: Die Nabelschnurblutspende ist ein relativ neues Verfahren, bei dem Stammzellen bei der Geburt aus dem Nabelschnurblut entnommen werden. Diese Stammzellen werden auch als neonatale Stammzellen bezeichnet und sind deutlich potenter als adulte Stammzellen bei Erwachsenen.

Fremde oder eigene Stammzellen?

Zusätzlich zu den Entnahmeformen unterscheidet man, ob die Stammzellen von einem fremden Spender kommen (Allogene Stammzelltransplantation) oder vom Patienten selbst (Autologe Stammzelltransplantation).

Allogene Transplantationen wirken wie eine Immuntherapie. Die neuen Zellen helfen dem Körper des Empfängers, bösartige Zellen zu beseitigen und siedeln sich im Knochenmark an, wo sie neue, gesunde Blutzellen bilden. Allerdings ist es schwierig, den geeigneten Spender zu finden. Jede unserer Zellen besitzt eigene Oberflächenmerkmale und diese müssen bei einer Spende übereinstimmen. Die Bestimmung dieser Eigenschaften der Zellen nennt man Typisierung.

Außerdem kann eine Stammzelltransplantation auch erhebliche Nebenwirkungen haben. Im schlimmsten Fall kommt es zur sogenannten Graft-versus-Host-Disease (GvHD), bei der die Immunzellen des Spenders den Empfängerorganismus angreifen.

Die Autologe Stammzellentransplantation erfolgt weitaus seltener. Sie kann beispielsweise stattfinden, wenn die Stammzellen eines Betroffenen bereits bei dessen Geburt entnommen und eingelagert wurden. Oder sie werden Patienten vor einer Chemotherapie entnommen und nach der Behandlung wieder zurücktransfundiert. Diese Therapie wird häufig bei Lymphomen oder multiplen Myelomen angewandt.

Stammzellentherapie – wo könnten wir in Zukunft Stammzellen einsetzen?

Fortschritte in der Stammzellenforschung der letzten Jahre haben es möglich gemacht, dass neuere Therapieansätze für die verschiedensten Erkrankungen ausprobiert werden. Vor allem mithilfe der induzierten pluripotenten Stammzellen, die den embryonalen Stammzellen gleichen, erhoffen sich die Forscher neue Therapiemöglichkeiten.

Zurzeit wird in nahezu allen Bereichen der Therapie von Erkrankungen geforscht. Ein Fokuspunkt der Stammzellenforschung sind sicherlich Gehirn und Nerven. Viele Krankheiten, die die Nervenzellen unseres Gehirns und Körpers angreifen, sind nur schwer mit Medikamenten zu therapieren. Aus diesem Grund hofft man bei den folgenden Krankheiten darauf, Wege zu finden, um die geschädigten Nervenzellen durch neue zu ersetzen:

Daneben gibt es noch weitere Bereiche, in denen in den letzten Jahren die ersten Erfolge verzeichnet wurden: 

  • Makuladegeneration: Stammzellen werden zur Regeneration der Hornhaut des Auges eingesetzt. Hier sind bereits erste Studien erfolgt und die Ergebnisse sind sehr vielversprechend.2
  • Arthrose im Knie: Erste Studien konnten belegen, dass nach einer Stammzellinjektion in das Knie der Knorpel nachweislich gewachsen ist. Patienten haben außerdem von weniger Schmerzen und von einer besseren Beweglichkeit berichtet.3
  • Diabetes Typ 1: Hier ist es Forschern gelungen, insulinproduzierende Zellen aus induzierten pluripotenten Stammzellen herzustellen. Allerdings erst einmal im Reagenzglas – weitere Forschung steht daher noch aus.4

Stammzellenforschung: Ein Bereich mit Zukunft

Noch müssen einige Hindernisse überwunden werden, aber in Zukunft können wir in einigen Bereichen der Medizin auf neue Behandlungsmethoden mit Stammzellen hoffen. Einige Forscher gehen sogar soweit und wollen diese Technik dafür einsetzen, um eine Verjüngung unseres Körpers zu bewirken. Dies sind derzeit aber größtenteils noch Zukunftsfantasien.

Heutzutage besteht bereits die Möglichkeit, Stammzellen aus dem Nabelschnurblut einfrieren und einlagern zu lassen. Die Idee dahinter ist, dass diese Zellen noch nicht spezialisiert sind und so später bei Krankheiten wie Leukämie eingesetzt werden können. Das Verfahren soll also eine Art Versicherung für das Kind darstellen, denn das Ziel ist es, irgendwann personalisierte Stammzellen für die Behandlung von verschiedensten Krankheiten einsetzen zu können.